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Das Gretelchen
Anfang November. Es ist recht kalt, Tramontana macht das Wetter sehr kalt. Das Gretel, so hieß sie da aber nicht, ist ein gekrümmtes Gerippe. 6 Jahre alt. In einem kleinen Zwinger mit einer Bretonspanielhündin untergebracht, versucht sie verzweifelt, sich in eine winzige flache Kuhle zu legen. Eine kleine Mulde im Lehmboden, die für ein Meerschweinchen reichen würde.
Der Hund nimmt die Außenwelt offensichtlich nicht wahr. Keine Reaktion auf Ansprache. Nur dieses Gerippe mit dem extrem nach oben gewölbten Rücken. Jeder einzelne Wirbel und jede Rippe sichtbar. Die Besitzerin sagt ,der Hund ist hier geboren worden, sagt, sie sei gesund. Sie sei schon immer so gewesen. Inzucht. Aber es ginge ihr sehr gut. Sie ist sauer, weil ich den Schock des Anblicks nicht verbergen kann. Im Zwinger gibt es keine Futter-oder Wasserschüssel. Alles voller Dreck. Keine Hundehütte,kein Sonnen-oder Wind-und Regenschutz. Für Gretel gibt es nur diese Kuhle im Lehmboden. Seit 6 Jahren.
In den folgenden drei Tagen muss ich immer wieder an Gretel denken. Der Tramontana ist heftig geworden. Graupelschauer machen den Aufenthalt im Freien ekelhaft. In meinem Wohnzimmer bullert der Kaminofen und das Gerippe da draußen hat nur diese harte kalte Erdmulde--wenn da der bretonische Spaniel nicht drin liegt.
Ich rufe Carol an. Sage ihr,dass wir unbedingt diesen Hund holen müssen. Sie stimmt natürlich sofort zu und telefoniert... ...schließlich stimmt die Besitzerin zu, mir den Hund bis zum Frühjahr zu leihen. Aber ich soll sie nicht verwöhnen. Sie betont das Wort leihen und ist schwer beleidigt.
Sie zieht das dünne Tier am Nackenfell aus dem Zwinger. Gretel hängt verkrampft und doch kraftlos über ihrem Arm. Ich nehme sie schnell und denke: bloß weg. Der Hund ist kalt. Auch auf dem Arm kommt keine Körperwärme zurück. Kurz kommt der Gedanke,dass sie wohl eingeschläfert werden muss.... Aber vorher wird sie warme Decken und ein warmes Ofenfeuer haben.
Zuhause in der Küche bekommt Gretel eine mit vielen Decken und Fellen isolierte Box. Der Kochofen wird diesen Winter sehr viel arbeiten. Der Besuch muss schwitzen. Gretel bekommt warme Infusionen. Der Tierarzt macht ein betretenes Gesicht, zieht ihr Vorderbein aus der Box, keine Gegenwehr, setzt die Nadel und verzichtet aufs Honorar.
Es stellt sich bald heraus,das Gretel nicht laufen, nicht sehen und nicht hören kann. Keine Reflexe, keine Reaktionen. Gretel schläft und schläft und schläft. Die Küche wird konstant bullig warm gehalten und ich trage ständig Körbe Holz herein. Das größte Problem stellt sich nach den Infusionen heraus. Gretel trinkt nicht. Futter, zu Brei gemixt, in kleinsten Mengen und Wasser, 5-10ml-weise muss in Spritzen gegeben werden. Irgendwann begreife ich, dass Gretel das Ding Schüssel gar nicht kennt. Versuche alles: Blumentopfuntersetzer, Brackwasser, ein Loch draußen in die Erde gegraben, mit Regenwasser aufgefüllt.... Nach zwei Wochen endlich ist Gretel bereit, von einer hauchdünnen Wasseroberfläche zu trinken. Ich verstehe erst jetzt: die Technik, die Zunge wie einen Löffel einzutauchen,muss sie erst lernen! Es dauert kleine Ewigkeiten, bis sie Schlucke genommen hat. Auch ein Jahr später bedeutet trinken für Gretel immer noch eine große Sache. Vor dem Trinken eine Minute dasitzen, auf die Schüssel konzentrieren. Jetzt darf keine Ablenkung passieren! Drei-bis fünfmal umdrehen, mich fragend ansehen, ob das so jetzt in Ordnung ist...und schließlich: sitzend, mit unmöglich verrenkter Körperhaltung, trinken. Zwischendurch den Schüsselrand beobachten und die Zunge am Schrank abwischen. Die Schüssel muss immer sie selbe sein und der Platz darf nicht verändert werden. Also: Schüssel am selben Platz, in der Sitzposition davor hocken, sonst geht nix. Nach genau einem Jahr haben wir den Wohnzimmerschrank getauscht. Gretel hat zwei Tage nichts getrunken. Nach drei Wochen, Gretel frisst und trinkt und kann schaukelig laufen.
Das Fressen ist genauso ritualisiert wie das Trinken. Fünfmal täglich (auch oft nachts,uff) für zwanzig Minuten unter ruhigen Umständen muss ich einen Brocken Naturnahfutter nach dem anderen über den Fliesenboden kullern. Zum richtigen Zeitpunkt, nämlich, wenn sie sich konzentriert hat für einige Sekunden. Liegt ein Brocken schon länger, kann der nicht mehr gefressen werden. Ebenso wichtig ist die Größe. Das System, wann die Brocken groß, mittel oder kleiner sein müssen, habe ich heute noch nicht verstanden. Gretel nimmt also einen passenden Brocken. Dabei muss immer ein freundlich zurückhaltender Hund daneben stehen und Interesse zeigen, aber nicht konkurrieren. Mit dem Brocken in der Schnauze wackelt sie dann eilig in eine bestimmte Raumecke (da darf dann natürlich kein Wäschekorb abgestellt sein!) und frisst mit dem Gesicht zur Wand. Da die Zähne oben stark vorstehen dauert das Kauen lange und erfordert volle Konzentration. Dabei hilft wohl das von links nach rechts tippeln der Beine. Ich frage mich immer, ob der Vorgang der Nahrungsaufnahme nicht mehr Energie verbraucht als er einbringt. Doch langsam langsam nimmt Gretel zu! Sie bleibt ein dürres, wackelig torkelnd laufendes Mäuschen, aber nach einigen Monaten und einem Fellwechsel ist der schlanke windhundartige Körper glatt und keine Knochen sind mehr sichtbar auf Entfernung. Die Wirbelsäulenmuskulatur entspannt sich und der Rücken wird etwas gerader.
Gretel zieht nach ein paar Wochen aus der Küche um ins Wohnzimmer vor den Kaminofen. Dies wird IHR PLATZ bleiben. Wie eine Prinzessin auf der Erbse muss der Platz optimal gestaltet sein. Es ist immer die erste Schlafschüssel vor dem Ofen, je wärmer, desto besser. Saubere Felle und Kissen können nur partiell ausgetauscht und gewaschen werden. Eine gebrauchte Decke muss immer bleiben, sonst ist der Platz fremd und bedrohlich. Es folgt dann ein angeekelter Blick. Gretel ist ins Wohnzimmer gezogen, weil der Separatplatz Küche zum Krankenzimmer für Katzenwelpe Alma gebraucht wird.
Die Integration Gretels in das Rudel ist absolut problemlos. Wider Erwarten sind alle freundlich. Die anderen Hunde lassen Gretel bequem durch die Tür nach draußen, ohne zu drängeln und zu schubsen. Die Gewöhnung an die neue große Wasserschüssel im Wohnzimmer dauert drei Tage. Relativ schnell geht die Umgewöhnung an den Pinkelgang durch das Atelier nach draußen vor das Haus. Dort muss dann allerdings das Auto immer an der gleichen Stelle parken. Wenn nicht, dreht Gretel an der Türschwelle um. Auch ein Haufen Brennholz, der gestern noch nicht da lag, bringt das Gretel für einen ganzen Tag aus dem Konzept. Sie pinkelt in solchen Fällen ins Haus. Basta.
Inzwischen haben wir herausgefunden, dass bei plötzlichen Panikattacken kräftiges Brustkorb-rubbeln hilft. Mit den Fingern ganz doll in den Furchen zwischen den Rippen rauf und runter schubbern kommt gut an. Gretel grunzt dann manchmal vor Vergnügen und fordert durchaus mehr. Nach Monaten hat Gretel auch gelernt, wie man mich zum Streicheln auffordert. Sie steht plötzlich auf, wackelt auf mich zu. Dabei schaukelt der ganze Hund, ich hatte anfangs den Impuls sie aufzufangen, doch sie fällt nicht um. Mit geducktem Kopf, nach oben gezogener Oberlippe und "Spanischem Schritt" kommt sie und schmeißt sich wie eine Katze an die Beine. Da muss ich dann schon aufpassen, weil das Gleichgewicht dann nicht mehr hinhaut. Dieses Grinsen mit dem Überbiss und den Schlitzaugen, es ist herzzerreißend hässlich. Habe noch über keinen Hund so gelacht. Für diese Momente lohnt sich jede Mühe. So haben Gretel und ich also auch viel Spaß, bloß dass das außer uns keiner sieht, denn wenn Besuch kommt, bleibt Gretel in ihrer Schlafschüssel (notfalls drei Tage lang) und stellt sich tot! Anfangs decke ich sie dann zu, dann kann sie sich entspannen. Sobald der Besuch geht, blinzelt sie mit Schlitzaugen fast unmerklich über den Rand.....und wenn die Luft rein ist, kommt sie raus. Steht ruckartig auf, torkelt zur Tür, geht pinkeln, kontrolliert, dass kein fremdes Auto mehr vor der Tür steht, geht entspannt wieder rein, will schmusen, spielen und fressen. SO! Alles hat wieder seine Ordnung.
Spielen ist auch so ein Thema. Irgendwann beschließt Gretel, dass sie da wohl was nachzuholen hat. Anregend ist sicherlich die erste Läufigkeit hier bei uns. Spielen geht so: Man steht morgens um halb fünf (4:30) auf, stellt sich vors Bett und plärrt so lange, bis "Mutti" aufsteht. Ich mache das relativ zügig, weil die Verglasungen des Zimmers mit Gretels Bellen mitschwingen. Und das ist nicht zum Aushalten vor dem ersten Kaffee. Jetzt will Gretel oft aber gar nicht mit mir spielen. Doch wenn ich aufgestanden bin, räkeln sich auch andere Rudelmitglieder. Irgendwer wird dann auf die gleiche oben beschriebene Art zum Spielen überzeugt--oder gezwungen. Das geht dann so, dass Gretel mit einer Pfote Scheinangriffe macht, dabei mit dem Kopf wackelt und dabei fast immer knapp nicht umfällt. Die nächste Stufe ist dann das rituelle in das seitliche Halsfell des Partners schnappen. Schnappen und zurückhopsen. Dann wieder Pfote heben, bellen und so weiter. Jeder der anderen Hunde muss dann mal herhalten und das Spiel über sich ergehen lassen. Gegenwehr ist unzulässig. Unterwerfung wird erwartet. Entsprechend flüchtet der eine oder andere Morgenmuffel frühzeitig. So kommt jeder mal dran. Bloß mit Nuka geht das nicht. Nuka ist meine SpitzenWelpenNannyKrankenschwester-und-sowieso-ich-kümmer-mich-um-alles-Hündin. Nukas Gegenwehr ist simpel. Ignorieren und schlecken. Gretel tritt und schnappt und Nuka schleckt. Ohne Pause und ohne Ende. Wenn Gretel so gar nicht still halten will, nimmt Nuka die dicken Tatzen, klemmt die halbe Portion ein und "küsst" weiter. Das macht Nuk mit allen so. Und alle geben irgendwann auf. So werden die Augen gereinigt, die Ohreninnenseiten und die Schnauze. Die auch von innen, prokel, prokel, bis an die Grenzen des Möglichen. So mancher Welpe hat während des Zahnwechsels hier schon mal das Würgen gekriegt. Auch Gretel gibt dann irgendwann den Widerstand auf, findet das auch ganz schön und torkelt grundgereinigt Richtung Schlafschüssel. Und wenn sie Glück hat und Nuka ein anderes Opfer, dann kann sie, nass, weiter schlafen.
Als Gretel schon einige Wochen bei uns ist, die Flüssigkeitsmängel im Körper sicher ausgeglichen, bekommt sie plötzlich Krampfanfälle. Was für ein Schock!!! Wieso jetzt? Sie frisst, trinkt, wirkt oft richtig fröhlich (eigentlich immer, wenn sie nicht schläft), wird langsam etwas dicker.....das Herz hat durch den langen Flüssigkeitsmangel einen Schaden genommen, sagt der Tierarzt.....aber epileptische Anfälle? Carol besorgt über eine Krankenschwesterfreundin Valium. Es ist natürlich Wochenende. Valium im Haus ist wie der Regenschirm....die Anfälle sind vorbei.
Später stellt ein neuer Tierarzt fest, dass Gretel einen inneren Wasserkopf hat. Im Welpenalter muss sie irgendeine Infektion durchgemacht haben, die unbehandelt diesen Schaden hinterlassen hat. Daher der schaukelige Gang, die Schlitzaugen.....das autistische Verhalten.
Heute kann Gretel zwar schlecht, aber genug sehen, hört prima all das, was sie interessiert. Wie eine kleine Omi. Sie schläft viel (23 Stunden täglich), bestimmt ihren eigenen Rhythmus. Dem müssen sich dann alle anpassen. Phasenweise ist sie ausschließlich nachts aktiv. Das ist dann echt anstrengend. Und ich bin morgens ganz schön müde. Erziehen ist da nicht. Konditionieren mit Futter oder Spielzeug? Nicht dran zu denken. Bauarbeiten, fremde Geräusche, Jagdsaison, Besuch....Gretel stellt sofort für Wochen auf Nachtaktivität um wie ein Wildtier.
Manchmal denke ich, wie schlau sie doch ist. Dann steht wieder diese komische Art Autismus im Vordergrund. Gretel lebt wirklich in ihrer eigenen Welt. Aber in dieser Welt ist sie eine Principessa und kann sagen wo es lang geht. Und das tut sie. Und deshalb glaube ich auch, (obwohl sie bestimmt nicht das darstellt, was man sich unter Begleiter Hund vorstellt), dass sie echt zufrieden bei und mit uns ist.
Ich hoffe, dass sie noch lange IHREN Platz vor dem Ofen BESETZT hält!!!
Fani Masso
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